Einblick in ein Leben zwischen zwei Welten

„Es ist schwierig zu sagen, wo ich mich zugehörig fühle. Ich habe von der Schweiz mehr mitbekommen. Aber es gibt auch Sachen wo ich merke: nein, ich bin schon Kongolesin, eindeutig. Oder beides ein bisschen“. Dies sagt Adèle – eine junge Frau mit afrikanischen Wurzeln und fliessendem Schweizerdeutsch. Die Optikerin lebt und arbeitet im Kanton Zürich.

Adèles Eltern stammen aus einem Dorf im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, dem zweitgrössten Land Afrikas. Geboren wurde sie jedoch in Frankreich, wo ihr Vater ein Theologiestudium absolvierte. Als sein Studentenvisum ablief, hätte die Familie zurück in den Kongo reisen müssen. Im Kongo herrschten jedoch grosse politische Unruhen. Um eine Rückkehr zu vermeiden, beschlossen sie also, ihr Glück in der Schweiz zu versuchen. Da angekommen, wurden sie zunächst in verschiedenen Durchgangszentren untergebracht, bevor sie nach Winterthur zugeteilt wurden. Dort wohnten sie bis zu Adèles neunzehntem Lebensjahr in einem Wohnheim für Migranten.

 

„Es ist immer aufgegangen“

Im Wohnheim aufzuwachsen war nicht leicht. Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen wohnten zusammen. Manchmal gab es Streit über die Sauberkeit des gemeinsamen Bads und der Küche. Und dazu kamen finanzielle Sorgen, denn Adèles Eltern hatten Mühe, mit nur einer F-Bewilligung eine Arbeit zu finden.

„Es war schwierig“, sagt Adèle. „Aber es ist immer aufgegangen. Gott hat immer geschaut. Wir durften vielen Menschen begegnen, die ein grosser Segen waren auf unserem Weg“. Da war zum Beispiel Elisabeth, eine Schweizerin, die neben dem Wohnheim wohnte und für die Menschen dort da war. Sie organisierte jeden Donnerstag eine Kinderstunde, bei der die Kinder Geschichten aus der Bibel hörten. Auch Adèle besuchte diese Treffen mehrere Jahre lang.

 

Unterwegs mit einem persönlichen Gott

Adèles Eltern waren selber auch Christen und erzogen sie und ihre vier Brüder im Glauben. Für Adèle wurde der Glaube mit der Zeit immer persönlicher. Prägend war für sie dabei auch ein Osterlager der FEG Winterthur. Zwei Tage lang lag sie dort im Bett mit starken Schmerzen im Fuss. Immer wieder besuchten sie die anderen Teilnehmer und die Leiter und beteten für sie. Sie erzählten auch, dass sie im Gottesdienst für sie gebetet hätten. Adèle war sehr berührt und begann zu verstehen, dass Jesus sie persönlich liebte und nicht nur daran interessiert war, dass sie sein Gesetz einhielt.

So wuchs Adèles Vertrauen in Gott immer mehr. Heute ist sie überzeugt, dass Gottes Pläne immer am besten sind, auch wenn wir oft andere Wünsche haben. Als sie Teenager war, beantragte ihre Mutter Ausreisepässe, um als Familie zurück in den Kongo zu ziehen, da das Leben in der Schweiz ohne gute Arbeit nicht vorwärts ging. Die Enttäuschung war gross, als die zuständige Schweizer Beamtin ihnen die Ausreisepässe verweigerte, da der Konflikt im Kongo von neuem entflammt war. Doch genau zu dieser Beamtin entwickelte sich eine langjährige Freundschaft und sie ist heute Gotte von Adèles jüngerem Bruder. Im Nachhinein weiss Adèle, dass Gott sie gebraucht hat, um zu ihnen zu reden und um seinen Plan durchzusetzen.

 

Das Leben als Optikerin

Nach der Sekundarschule suchte Adèle eine Lehrstelle. Allerdings gestaltete sich diese Suche als sehr schwierig. Sie bewarb sich an vielen Orten, bekam aber trotz guter Noten nur Absage um Absage. Als sie nachfragte, woran die Absagen lagen, waren die Begründungen oft schwammig. Sie begann sich zu fragen, ob es an ihrer Herkunft lag. Bis heute weiss sie es nicht, ist aber froh, dass sie dann doch noch eine Lehrstelle als Optikerin fand.

Während der Lehre hatte Adèle oft Kontakt zu Kunden. Einmal sprach eine Kundin sie auf Englisch an. In der Annahme, die Dame könne kein Deutsch, führte Adèle das Gespräch auf Englisch weiter. Am Schluss drehte sie sich zu einer Arbeitskollegin und fragte etwas auf Schweizerdeutsch – zum grossen Erstaunen der Kundin. Denn diese war selber Schweizerin und hatte nur angenommen, Adèle könne kein Deutsch. Adèle erlebt Ähnliches immer wieder. Das könne schon ein wenig nerven, meint sie. Aber es ist halt so.

Nach der Lehre machte Adèle die Berufsmatur. Dem Thema Auge wollte sie treu bleiben und absolvierte danach ein Bachelorstudium in Optometrie, denn sie hat die Vision, irgendwo in Afrika ein Projekt zu starten, in dem Menschen Zugang bekommen zu Sehhilfen und Früherkennung und Behandlung von Augenerkrankungen. Doch zwischen ihr und diesem Traum steht noch eine Hürde: sie besitzt keinen Pass – auch keinen kongolesischen. Und ohne den kann sie nicht ins Ausland. Also lebt sie weiterhin in Winterthur und arbeitet in einem Optikergeschäft in Regensdorf. Sie verkauft Brillen und macht Augentests, und freut sich, wenn sie sieht, dass ihre Kunden zufrieden sind.

 

„Zuhause ist im Himmel“

Neben dem Arbeiten singt Adèle gerne, unter anderem in einem Lobpreisteam ihrer Kirche. Einmal hatte sie die Möglichkeit, mit anderen an einem christlichen Anlass, der von Kongolesen organisiert war, den Lobpreis zu gestalten. Geprägt von Schweizer Pünktlichkeit erschien das Lobpreisteam zur vereinbarten Zeit um 10 Uhr, doch niemand war da. Nach langem Warten ging es endlich um die Mittagszeit los. „Das hat vielleicht auch etwas Gutes“, meint Adèle. „Mit Kongolesen kann man lockerer sein. Man kann mal spontan besuchen. Bei Schweizern geht das nicht unbedingt“.

Adèle steht zwischen diesen zwei Welten. Sie kennt sowohl die kongolesische wie auch die Schweizer Art. Zu der Frage, wo sie sich zugehörig fühlt, hat sie keine klare Antwort, findet es aber auch nicht so wichtig. Denn ihre wirkliche Heimat, so erklärt sie, wird sie eines Tages im Himmel finden – so wie es in der Bibel steht: „Denn auf dieser Erde gibt es keine Stadt, in der wir für immer zu Hause sein können. Sehnsüchtig warten wir auf die Stadt, die im Himmel für uns erbaut ist“ (Hebräer 13,14; HFA).

Und in der Zwischenzeit? Adèle weiss noch nicht, ob sie immer in der Schweiz bleiben wird, oder ob es ihr irgendwann möglich sein wird, ihrer Vision in Afrika nachzugehen. Aber sie ist zuversichtlich, dass Gott sie führt – Schritt für Schritt.

 

Autor: Susanna Pope
Foto: Johannes Müller
25.9.2019