Einem Teenager mit kosovarischen Wurzeln wurden drei Lehrstellen angeboten. Offensichtlich hat er die Integration geschafft. Die Geschichte hat leider einen Haken: Der Jugendliche durfte keine der drei Stellen antreten. Nicht weil er etwas falsch gemacht hätte, sondern weil das Asylgesuch seiner Eltern abgelehnt wurde und die Familie in der Schweiz unerwünscht war.

Was geschieht mit einem jungen Menschen, wenn ihn das Secondo-Schicksal ausbremst? Der erwähnte Jugendliche war gezwungen zum Nichtstun und kam – wie er später selbst sagte – auf dumme Ideen, die ihn sogar mit der Polizei in Kontakt brachten.

Viele junge Leute der zweiten Generation geraten zwischen die Fronten. Von der Kultur ihrer Eltern kennen sie zwar noch die wichtigsten Verhaltensregeln, aber die dahinterliegenden Werte sind ihnen oft nicht vertraut. Und zum Ankunftsland gehören sie auch nicht ganz; Name und Hautfarbe weisen immer auf ihre Herkunft hin.

«Wer bin ich?» Schon Mose richtete diese Frage an Gott. Bezeichnenderweise war er selbst Abkömmling eines eingewanderten Volkes. Viele Secondos sind verunsichert. Genau diese Situation ist aber auch ein Anstoss, nach einer tieferen Verwurzelung zu suchen.

 

Chance für eine neue Zugehörigkeit

Der Teenager aus Kosovo liess sich von einer früheren Klassenkameradin in eine christliche Gemeinde einladen. Obwohl er von der Predigt nicht viel verstand, wurde er neugierig. Schliesslich entschied er sich für Jesus: «Ich erkannte, dass Jesus mich mit meiner unklaren Perspektive genau gleich liebt wie die Schweizer.» Er nahm im Glauben die Vergebung von Jesus für sein von Hass motiviertes Handeln an und vergab denen, die ihn schlecht behandelt hatten.

Kürzlich fragte ich ihn, was es braucht, damit Secondos diese Erfahrung machen können. Entscheidend sei, ihnen als Menschen zu begegnen, ohne vorschnelle Zuordnung zu einer kulturellen Gruppe. Schliess-lich geht es ja nicht darum, dass jemand ein besserer Schweizer, eine bessere Schweizerin wird, sondern «Himmelsbürger». Dies erfordert Zeit und Geduld, um in die Situation des jungen Menschen und in die Welt seiner Familie einzutauchen und ihn oder sie zu Jesus zu begleiten.

 

Chance für eine Berufung

Ohne Rückschläge geht ein solcher Weg nicht. Zwei Tage nach seiner Taufe wurde der junge Mann ausge-schafft. Doch schon ein halbes Jahr später kehrte er zurück, um seine Schulliebe zu heiraten. Inzwischen sieht Egzon Shala seine Geschichte als Vorbereitung auf seine Tätigkeit als Brückenbauer in der Schweiz. Diese Berufung lebt er als Asylbetreuer, Leiter eines Ausbildungsprogramms für Christen mit Migrations-hintergrund und – seit Sommer 2019 – als Koordinator der SEA-Arbeitsgemeinschaft interkulturell aus.

Mit ihrer Prägung und Erfahrung bringen Secondos ideale Voraussetzungen als interkulturelle Brücken-bauer mit. Doch nur wenige finden in diese Rolle hinein. Egzon Shala wünscht sich Raum für sie, in dem sie sich entwickeln und Erfahrungen sammeln können. Wichtig ist die Begleitung durch reife Christen, die an sie glauben und ihnen Perspektiven geben. Secondos brauchen Ermutigung, ihr Glaubensleben in der Sprache der Eltern und auf Deutsch zu leben, sich in ihrer Gemeinde zu engagieren und zugleich mit Chris-ten aus den verschiedensten Nationen zusammenzuarbeiten.

 

Secondos überall

Mehr als die Hälfte der Kinder in der Schweiz haben mindestens einen Elternteil mit Migrationshinter-grund, über ein Drittel sogar beide. Sehen die Kirchen in der Schweiz diese neue Generation? Ich träume davon, dass Secondos Gemeinden und christliche Begleiterinnen und Begleiter finden, die ihnen so begegnen, wie sie sich selbst fühlen, die ihre Verletzlichkeit wahrnehmen und sie auf dem Weg mit Jesus ermutigen. So wird sich ihr Potenzial entfalten. Und Kirche – und Gesellschaft – entdecken ganz neue Brückenpersonen für die aktuellen interkulturellen Herausforderungen.

 

(Dieser Artikel erschien im Magazin Insist 2/20, S. 28. Das Heft steht zum Download zur Verfügung.)

Autor: Johannes Müller
Foto: Egzon Shala
22.4.20