«Ich bin ein Niemand», ging es mir durch den Kopf. Beim Spaziergang durch die Winterthurer Altstadt war mir kein Bekannter begegnet, niemand hatte mich gegrüsst. Ein paar Wochen zuvor waren wir nach einem vierzehnjährigen Einsatz in Guinea (Westafrika) in die Schweiz zurückgekehrt. Dort war ich als der weisse Pastor stadtbekannt gewesen, auf der Strasse sprachen mich viele Menschen an. Kurz: Ich war ein Jemand.

Das ist vor einigen Jahren geschehen. Die Migration zurück aus Afrika führte uns in ein Umfeld, das wir von früher her gut kannten. Wir beherrschten die Sprache und kamen mit dem Alltag relativ rasch wieder zurecht. Und doch ergriff mich seither öfters das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Im Vergleich zu unserer Zeit in Guinea hatte ich im Schweizer Umfeld kein «Gesicht».

 

Migration löst Scham aus

Menschen, die aus gemeinschaftlichen Kulturen stammen und neu in die Schweiz einwandern, erleben intensiv, dass sie ihr Beziehungsnetz und ihren Platz verloren haben. Sie spüren, dass sie nicht zur Gemeinschaft gehören. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, löst Scham aus.
Das ist typisch. Viele Migrationserfahrungen haben etwas Beschämendes an sich. Ein eritreischer Flüchtling, der in Italien wegen der winterlichen Kälte auf Abluftkanälen übernachtete, schrieb: «Ich will nicht gesehen werden, sondern mich verstecken und in Luft auflösen, so sehr schäme ich mich. Was soll ich meiner Mutter sagen, wenn ich das nächste Mal anrufe? … Gegen bodenlose Scham hilft kein Gebet .»
Viele Flüchtlinge können kaum von ihrer Reise erzählen. Traumatische Erlebnisse wie Misshandlungen, Vergewaltigungen und Ohnmacht beschämen sie zu sehr. Aber auch die Situation als Asylsuchende im Gastland trägt zur Scham bei. Mangelnde Sprachkenntnisse und Arbeitslosigkeit zeigen ihnen immer wieder, dass sie den Anforderungen nicht genügen.

 

Persönliche Wertschätzung geben

Kürzlich begleiteten meine Frau und ich einen jungen Ghanaer in eine internationale christliche Gemeinde, damit er mit dem Pastor die Ablehnung seines Asylgesuchs besprechen konnte. Die beiden wechselten sofort in eine afrikanische Sprache. Ich dachte, dass sie aus demselben Volk kamen. Aber der Pastor erklärte mir auf Englisch, das sei nicht der Fall, sondern er beherrsche drei ghanaische Sprachen, darunter die des jungen Mannes. Als ich meine Bewunderung für seine Sprachkenntnisse ausdrückte, gestand er mir, dass er nur mit Deutsch nicht zurechtkomme. Erst als er meine Wertschätzung spürte, konnte er diese Schwäche zugeben.
Es gibt aber auch eine andere Sichtweise: Jeder Migrant und jede Migrantin ist eine Fachperson. Ihre Kenntnisse des Herkunftslandes, der Kultur und ihre Erfahrungen sind einmalig. Wenn sie dieses Wissen konstruktiv zur Geltung bringen können – was im Schweizer Umfeld selten automatisch geschieht – ist das für sie sehr wertschätzend. Ehre ist das beste Gegenmittel zur Scham.

 

Sichtbare Anerkennung vermitteln

Migranten aus Kollektivkulturen werden bei uns besser Fuss fassen, wenn sie nicht nur einzelne Kontakte haben, sondern auch in gemischte Gruppen zusammen mit Schweizern hineinfinden. Auf dem Fussballplatz gelingt das immer wieder. Aber nicht alle Migranten spielen Fussball. Was können christliche Gruppen und Gemeinden tun?
Ein Afrikaner, der seit einer Weile in die Gemeinde kommt, zu der ich gehöre, stellte mir seine dreizehnjährige Tochter vor. Er fragte, ob sie nicht in einer der Worshipbands mitsingen könne. Mir war klar: Vorne auf der Bühne würde die Begabung des Mädchens sichtbar und alle würden sehen, dass sie und ihre Familie zur Gemeinde gehören. Leider konnte ich sie an keine Band vermitteln, weil sie deutlich zu jung war. Welche andere Aktivität könnte die Gemeinde dem Mädchen und seinen Eltern anbieten, bei der sie wahrgenommen werden und Anerkennung erfahren?
Als Jesus gefragt wurde, wer der Nächste sei, den wir lieben sollen, erwähnte er einen Fremden – einen Samariter. Fremde lieben bedeutet, ihnen wieder ein Gesicht zu geben, ihnen echte Wertschätzung entgegenzubringen und dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Umfeld beachtet werden. Das ist Ausdruck der Liebe, zu der Gott uns auffordert .

 

Für mehr Tipps zum Thema, siehe das Buch: «Ehre, Scham und Harmonie: Interkulturelle Kontakte und ihre Herausforderungen» (Ruth Lienhard, VTR, 2016 / erhältlich bei MEOS Medien).

 

Dieser Artikel erschien im Magazin Insist 4/18 (S. 28). Das Heft steht zum Download zur Verfügung.


Autor: Johannes Müller
Foto: Choir1984 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:African_Childrens_Choir_Picture.jpg)
17.12.2018