«Tubaabu, Tubaabu!» Fast jedes Mal skandierten Kinder diese Worte, wenn wir durch unser Wohnquartier im westafrikanischen Guinea fuhren. Auch nach 14 Jahren hatte ich mich nicht daran gewöhnt, dass wir so als «Weisse» taxiert wurden. Irgendwie empfand ich es entwürdigend, auf ein äusseres Merkmal – die mangelnde Pigmentierung meiner Haut, durchaus ein Nachteil unter der Tropensonne – reduziert zu werden. Ich fühlte mich ausgegrenzt. Immerhin waren diese Rufe etwas nicht: eine abwertende Diskriminierung.

Als Fünftklässler hatte sich das ganz anders angefühlt. Ich war der einzige Ausländer in meiner Stadtzürcher Primarschulklasse und ein paar Kinder riefen mir «Hitler» nach. Über 25 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg hatten sie wohl kaum einen Bezug zu diesem Teil der deutschen Geschichte. Aber darum ging es ja auch nicht: Ziel war nur, mich als frisch Eingewanderten spüren zu lassen, dass ich nicht dazu gehörte.

Seither hat sich in der Schweiz einiges geändert. In unserem jetzigen Wohnquartier in Winterthur kommt nur ein sehr kleiner Teil der Primarschüler aus Familien, in denen zu Hause Schweizerdeutsch gesprochen wird. Unser Sohn musste es sich gefallen lassen, in der Schule als «Scheissschweizer» beschimpft zu werden. Etwas ist also offenbar gleichgeblieben: Minderheiten werden ausgegrenzt.

 

«Den grüsse ich doch nicht»

Am Schluss der Rekrutenschule mussten wir unsere Fahrzeuge instand stellen. In einer Pause erzählte ein Mitrekrut mit von Stolz geschwellter Brust: «An dem Posten dahinten habe ich gesagt, welche Teile ich brauche. Sie haben mich angeschnauzt: ‘Aamälde!’ Der Leutnant war ein Schwarzer, bei dem melde ich mich doch nicht an. Dann habe ich mich halt beim Unteroffizier neben ihm angemeldet.» Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, dass ich damals nur zaghaft reagiert habe. Die Situation betraf mich ja nicht direkt.

 

Angst vor Rassismus

Genau das gehört zum Rassismus: Die Mehrheitsbevölkerung merkt wenig davon und kann Betroffenen kaum nachfühlen. Kürzlich erzählte mir eine befreundete Familie, dass sie sich von einem Nachbarn schikaniert fühlen. «Ist er nur so pingelig, weil wir Afrikaner sind?» Ich versuchte sie zu versichern, dass in vielen Mehrfamilienhäusern Spannungen wegen der Waschküche auftreten und das nicht unbedingt mit ihrer Herkunft zu tun hat.

Durch meine jetzige Arbeit habe ich viele Kontakte zu Afrikanern, die in der Schweiz leben. Offenen Rassismus erleben sie eher selten, aber ausgegrenzt fühlen sie sich schon häufiger. Und sehr rasch schwingt die Angst mit, das Schweizer Gegenüber könnte rassistische Motive haben.

 

Offensichtliche Ähnlichkeit

Am Anfang unseres Guineaaufenthalts nahmen meine Frau und ich an einer regionalen Kirchenkonferenz teil. Als ich die einheimischen Pastoren auf den Ehrenplätzen anschaute, fiel mir auf, dass einer von ihnen einem Schweizer Bekannten glich. Ich flüsterte das meiner Frau zu. Noch bevor ich den Namen des Schweizers aussprechen konnte, platzte sie spontan damit heraus. Die Ähnlichkeit war zu offensichtlich. So klein können die äusseren Unterschiede sein.

Auch wertmässig sind wir nicht verschieden. Der Apostel Paulus betont, dass es unter Menschen, die von Jesus erneuert sind, keine Unterschiede wegen Herkunft, Geschlecht, sozialer Stellung oder Kultur geben darf (Galater 3,28; Kolosser 3,11).

 

Eine Alternative

Als mir die Nachbarskinder in Guinea «Weisser» nachriefen, hielt ich einmal mein Motorrad an und fragte sie: «Ihr kennt mich. Wer bin ich?» «Du bist der Papa von David.» Das war die höfliche Anrede für einen Erwachsenen. Ich sagte zu ihnen: «Ja also, dann könnt ihr mich auch so grüssen.» Von da an riefen sie mir ab und zu meinen Namen nach.
Statt in Vorurteilen zu verharren, wie wäre es, auf unsere Nachbarn zuzugehen und sie persönlich kennenzulernen?

 

(Dieser Artikel erschien im Magazin Insist 4/20, S. 28. Das Heft steht zum Download zur Verfügung.)

Autor: Johannes Müller
Foto: Johannes Müller
3.12.20